Der heutige Gast von 1905.az ist Doktor der historischen Wissenschaften, Prof. Musa Gasymli.
– Herr Gasymli, Sie erforschen die Periode des Ersten Weltkrieges. Zu Zeiten der Aserbaidschanischen Republik stammten die Referenten der Außerordentlichen Untersuchungskommission für Massaker 1918 hauptsächlich aus anderen Nationen. Heißt es nicht, dass diese Kommission unparteiisch wirkte?
– Der Völkermord gegen Aserbaidschaner erreichte seinen Höhepunkt im März 1918 in Baku, wurde aber auch in weiteren Regionen durchgesetzt. Innerhalb einiger Tage wurde die friedliche Bevölkerung grausam von den bolschewik-armenischen Kräften erschlagen, bloß weil sie türkisch-moslemisch war. Laut unseren Archivalien beträgt die Anzahl der massakrierten Bevölkerung, 8, 10, 12 und in einigen Quellen sogar 15 Tausend Menschen, während ausländische Urkunden auf 20-25 Tausend Opfer (nur in Baku) deuten. So weisen die britischen Archivalien jener Zeit darauf hin, dass ein Viertel der aserbaidschanischen Bevölkerung von Baku während dieser Ereignisse ermordet wurde. Damals zählte die Bevölkerung von Baku 280-300 Tausend Menschen, davon 80-100 Tausend Aserbaidschaner. Also betrug die Anzahl der Ermordeten ein Viertel davon, d.h. 20-25 Tausend Menschen. Einige Monate nach der Ausrufung der Republik wurde von der aserbaidschanischen Regierung im Juni die Außerordentliche Untersuchungskommission eingesetzt. Die einbezogenen Mitglieder dieser Kommission waren hauptsächlich Nichtaserbaidschaner. Sie trafen sich mit den Opfern des Massakers, die noch am Leben geblieben waren, sprachen mit den Familienmitgliedern der Ermordeten, sammelten Augenzeugenberichte. Die allseitigen Untersuchungen zeigten, dass das Hauptziel des in Baku begangenen Völkermordes, die Verhinderung der Unabhängigkeitserklärung von Aserbaidschan, die ethnische Säuberung der Abscheronischen Halbinsel, und die Inbesitznahme des Erdöls und des Weges nach Eurasien war.
– N. Narimanov, M. Asisbeyov, M. Wasirov waren damals in der Leitung der Bakuer Kommune vertreten. Hat man Unterlagen mit ihren Meinungen zu dem Völkermord?
– Die Begehung des Völkermordes gestanden auch die damaligen aserbaidschanischen Bolschewiken. Die berühmte Persönlichkeit von Aserbaidschan N. Narimanov betonte in seinen Artikeln einseitig, dass im gesamten Kaukasus nur eine Nation ermordet wurde – die Muslimen. Die bolschewik- armenischen und daschnak- Kräfte berücksichtigten keine Parteizugehörigkeit. Sie ermordeten sogar die Sozialisten, die moslemisch oder türkisch waren. Aber die Anstifter des Völkermordes konnten ihr Ziel nicht erreichen. Zwar verlängerten sie den Weg zur Unabhängigkeit von Aserbaidschan, verlangsamten diesen Prozess, die Bestrebungen nach der Freiheit konnten sie aber nicht ersticken. Nach einiger Zeit wurde die Unabhängigkeit von Aserbaidschan verkündet.
– Welche Rolle spielte die Unabhängigkeitserklärung und die 23 Monate existierende Republik im weiteren Schicksal des Volkes?
– Die Gründung der Republik war nicht nur in der Geschichte des aserbaidschanischen Volkes, sondern auch im gesamten Leben der moslemischen Völker, die unter dem kolonialen Joch litten, von großer Bedeutung. Das aserbaidschanische Volk brachte den anderen moslimischen Völkern die Unabhängigkeitsidee und die Regierungsverfahren bei. Das aserbaidschanische Volk zeigte ihnen den Weg zur Entkolonialisierung. Nach der Ankündigung der Unabhängigkeit meldeten sich viele Vertreter der moslimischen Völker, die sich in Sibirien im Exil befanden, im aserbaidschanischen Konsulat in Irkutsk an, um die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit zu erwerben.
– Im Jahre 1918 wurde in vielen Regionen von Aserbaidschan ein Massenmord begangen. Der schrecklichste und grausamste davon ereignete sich am 31. März in Baku. Gab es keine Kraft im Inland, die es verhindern hätte können?
– Es wurde immer versucht uns aufzuzwingen, dass unser Staat keine Geschichte hätte, unsere Geschichte räuberisch wäre. Manchmal spricht man über die sogenannten Gotschus (Räuber), die während des Völkermordes in Baku wirkten. Zwar sei ihre Tätigkeit eine Seite der aserbaidschanischen Geschichte, es ist aber keine offizielle und staatliche Geschichte Aserbaidschans. Obwohl Aserbaidschan während des Völkermordes über keine Unabhängigkeit verfügte, hatte es eine minderzählige wilde Division, die den Ereignissen Widerstand leisten konnte. Es gab eine Reihe von Gründen, warum die Aserbaidschaner militärisch schwach waren. Nach der Eroberung des Nordens Aserbaidschans durch den Zarismus wurden die Muslime von der Leitung der zentralen Macht ferngehalten, sie wurden nicht zum Militärdienst herangezogen. Somit verlernten die Aserbaidschaner das Militärsystem und zahlten Steuer, weil sie frei von dem Militärdienst waren. Trotzdem gab es viele aserbaidschanische Generäle, die in der Zarenarmee dienten.
– Es nähert sich das 100. Gedenkjahr des ausgedachten armenischen Völkermordes vom 24. April. Nach letzten Angaben treffen die Armenier große Maßnahmen anlässlich des Begehens dieses Jahrestages. Und wir? Welche Vorkehrungen ergreifen wir, um der ganzen Welt den Genozid gegen Aserbaidschaner bekannt zu machen. Machen wir genug auf diesem Gebiet?
– Hinsichtlich des ausgedachten armenischen Massakers habe ich mich mit vielen Archivalien vertraut gemacht und eine Monographie zusammengestellt, die auf sicheren Quellen beruht. Diese Monographie wurde in Baku und in Moskau veröffentlicht und hatte ein positives Gutachten von den Experten in Ankara bekommen. In der Geschichte gab es kein sogenanntes „Massaker gegen Armenier“. Die Massaker wurden während des Ersten Weltkrieges von den bewaffneten armenischen Gruppierungen, und auf staatlichem Niveau, nach der Gründung Daschnaksarmeniens in den historisch türkischen Gebieten angerichtet. Die bewaffneten armenischen Gruppen wurden von dem zaristischen Russland finanziell und organisatorisch unterstützt und gegründet. Die „armenische Frage“ aktualisierte sich also auf Beharren Russlands wieder. Die Beweise dafür stammen aus sicheren Quellen. Das zaristische Russland stellte zusammen mit Frankreich und Großbritannien eine Botschaft an die Osmanen zusammen. In den Unterlagen vom Außenministerium des zaristischen Russlands steht: „Unsere gemeinsame Botschaft an die Osmanen hebe die Stimmung der Armenier und leiste unserer künftigen gemeinsamen Politik große Hilfe“. Der Autor der sogenannten „armenischen Frage“ war das zaristische Russland.
Lange Zeit hat die Welt nur ausgedachte, falsche, armenische Informationen erhalten. Aber durch die richtig geführte Politik der letzten Jahre wird der Welt auch unsere Stellungnahme in diesen Fragen bekannt. Unsere Einstellung spiegelt die historische Realität wider. In den letzten Jahren sind auch unter der Leitung des Herrn Präsidenten Ilham Aliyev viele Maßnahmen in Richtung der internationalen Anerkennung Armeniens als Aggressorstaat und des Völkermordes in Xodschaly getroffen worden. Es wurden viele Artikel im Ausland veröffentlicht, Filme gedreht, die die Wirklichkeit widerspiegeln. Wir haben also gegen die 200jährige Tätigkeit der Armenier im Laufe von nur der letzten 10 Jahre eine ideologisch gemessene Antworthaltung demonstriert.
– Neulich wurde Ihre sogenannte Monographie „Von „armenischer Frage zu armenischem Massaker – Auf der Suche nach der wirklichen Geschichte (1724-1920)” veröffentlicht. Wie würden Sie die „armenische Frage“ kurz charakterisieren?
Als Historiker, der an den Archivalien von acht Ländern gearbeitet hat, kann ich also sagen, dass die sogenannte „armenische Frage“ in bestimmten historischen Zeiten von einigen großen Staaten zielgemäß aufgerollt wurde. Im Wiener Kongress 1815 wurde die sogenannte „Orientfrage“ besprochen, die im Grunde genommen die Vernichtung der Osmanen zum Ziel hatte. Die „armenische Frage“ tauchte erst später, nach dem türkisch- russischen Krieg 1877-1878 auf. Das ist eine künstlich entstandene Frage, die sich die Teilung des Osmanischen Reiches und die Eroberung seiner Eigentümer zum Ziel setzte. Zu diesem Zweck wurde auch die sogenannte Illusion von „Großarmenien“ geschaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden terroristisch-politische Organisationen gegründet. Erste Schritte wurden in Ostanatolien und später im Südkaukasus unternommen. Das Hauptziel des Massenmordes 1905-1906 im Südkaukasus, der von den bewaffneten armenischen Gruppierungen begangen wurde, war die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung aus ihren Gebieten, die Unterbringung (Umsiedlung) der ausländischen Armenier in diesen Gebieten, und die Vorbereitung der Bedingungen für die Gründung „Großarmeniens“. Diese Ereignisse werden oft als Unruhezeiten kennzeichnet, jedoch in den geheimsten zaristischen Quellen steht deutlich, dass dies konkrete Schritte der Armenier zur Schaffung „Großarmeniens“ waren.
– Herr Gasymli, es wurde ein starker Eindruck gewonnen, dass die Reisen der Mitglieder der Minsker OSZE-Gruppe für die Bergkarabach-Frage einen „touristischen“ Charakter hätten. Wir lesen ein- oder zweimal pro Woche die Berichte über die Reisen der Ko-Vorsitzenden in die Region. Wir sehen dass sie Überwachungen an der Frontlinie durchführen. Wie schätzen Sie die derzeitige Tätigkeit dieser Organisation ein? Haben die Reisen der Ko-Vorsitzenden in die Region wirklich einen „touristischen“ Charakter?
– Die seit 1992 tätige Minsker Gruppe der OSZE wurde konkret damit beautragt, und sie wirkt im Rahmen dieses Mandats. In den vergangenen Zeiten hat die Minsker Gruppe der OSZE über die Lösung des Bergkarabach Konflikts, der infolge des militärischen Angriffs Armeniens entstand, einige Vorschläge gemacht: abschnittweise, etappenweise und eine gemeinsame staatliche Lösung. Einer von diesen Vorschlägen – die gemeinsame staatliche Lösung – widerspricht sowohl den internationalen völkerrechtlichen Normen, als auch denen der aserbaidschanischen Verfassung, deswegen wurde diese Variante von unserem Staat abgelehnt. Und Armenien gewinnt inzwischen nur Zeit. Die Tätigkeit der Minsker Gruppe ist noch ergebnislos, und ihre Reisen in die Region haben somit nur einen „touristischen“ Charakter.
– Und welche Lösung sehen sie für die Regelung des Konfliktes?
– Ich denke, dass die Mitgliedstaaten der Minsker Gruppe in erster Linie auf Armenien Druck ausüben sollten. Man sollte den Aggressor zügeln. Wenn das invasorische Land die UNO-Resolutionen missachtet, dann sollte man dieses Land unter strenge Sanktionen stellen. Wer in diesem Fall Aggressor und Eroberer ist, ist vollkommen klar. Der Eroberer sollte als Eroberer und nicht anders genannt werden. Die Minsker Gruppe sollte ihre Tätigkeit erweitern. Außerdem muss auch Aserbaidschan stark sein. Je stärker wir sind, desto stärker wird unsere Diplomatie.
– Herr Gasymli, zweifellos folgen Sie den Ereignissen auf der Krim. Was denken Sie, kann die Kontra-Einstellung Aserbaidschans bei der Abstimmung über den Anschluss von der Krim an Russland ein neues Hindernis zur Lösung des Bergkarabach-Konfliktes sein? Ich meine, kann die schon bestehende „Angst vor Russland“ noch stärker werden?
– Es gibt überhaupt keinen Grund, die Ereignisse auf der Krim mit der Frage von Bergkarabach zu vergleichen. Karabach wurde von Armenien und die Krim von Russland erobert. In dieser Hinsicht ist die Einstellung von Aserbaidschan richtig. Unser Land hat sich bei der Abstimmung auf die Prinzipien der modernen internationalen Rechtsnormen gestützt. Meiner Meinung nach, soll man bei dieser Sache keine „Angst vor Russland“ haben. Russland stützt sich bei der Krimfrage auf das Prinzip der nationalen Vorherbestimmung. Aber nach einigen Jahren könnte Russland selbst unter diesem Prinzip leiden. Wie würde die Leitung von Russland darauf reagieren, falls viele Subjekte Russlands ihr nationales Selbstbestimmungsrecht nutzen würden? Und was das Verhängen der Sanktionen anbelangt, hier gelten auch zweierlei Standards. Warum unterstützen manche Länder das Verhängen der Sanktionen gegen Russland, während man gegen Armenien keine einführt? Ich glaube, Russland wird wegen seiner falschen Politik in der näheren Zukunft großen Schaden erleiden.
Aynur Huseynova
1905.az